Mian Marzio G. | Die neue Arktis


"Wenn früher einer im Winter starb, konnte man ihn erst im Juni beerdigen, weil man vorher gar kein Grab ausheben konnte. Jetzt müssen wir die Toten zu einem Notfriedhof weiter im Inland bringen, in der Tundra. Die Kreuze stehen schief oder sind umgekippt, weil der Untergrund mit allem, von den Mammuts bis zu den Toten der letzten Jahrzehnte, langsam auftaut." Was der Bürgermeister von Nome an der Nordwestküste von Alaska schildert, klingt drastisch. Und macht deutlich: Die Farbe Weiß wird auf unserem Planeten immer seltener, die Temperaturen steigen und die Klimaanlage Nordpol funktioniert nicht mehr. Hat damit auch ein neues Zeitalter begonnen ?

Für die Geografen beginnt die Arktis mit einer Linie auf der Landkarte, dem Polarkreis am nördlichen Breitengrad 66°33'39". Klimaforscher fokussieren sich auf ihre Temperaturen. Biologen definieren sie durch ihr besonderes Ökosystem, und für alle an Geopolitik Interessierten liegen ihre Grenzen wesentlich weiter südlich, weil Länder wie China, Singapur oder Australien Anspruch auf Territorien erheben.

Aber mehr als alles andere ist die Arktis eine Vorstellung, die noch dazu meistens falsch ist. Sie ist weder unbewohnt noch unberührt. Das zeigt der Reisebericht von Marzio G. Mian mit dem Titel "Die neue Arktis. Der Kampf um den hohen Norden". Wie kaum ein Zweiter hat Mian die Region rund um den Nordpol mit journalistischen Mitteln vermessen. Seine Texte atmen die Frische seiner Erlebnisse. Sie schildern Begegnungen und Fakten, die nur wenige kennen, bis hin zur erschütternden Selbstmordrate unter der indigenen Bevölkerung, die die Kluft zwischen dem modernen Menschen und dieser alten Jagdkultur illustriert. Während den einen die Existenz davonschmilzt, wittern die anderen Profitchancen. Das vielleicht absurdeste Symptom für die Vermarktung des Nordpols ist der Last-Chance-Tourismus, der über die Region hereinbricht.

Mian erzählt von der ungehemmten Ausbeutung der letzten unberührten Naturräume. Denn das Schmelzen von Gletschern und Packeis verkürzt die Schifffahrtsrouten und macht Bodenschätze von unschätzbarem Wert zugänglich. Russland gewinnt bereits 85 Prozent seines Erdgases aus der Arktis. Ein chinesisches Unternehmen plant in Grönland die weltgrößte Mine für Uran und seltene Erden. Längst ist die Militarisierung in vollem Gange. Die Gefahr nuklearer Zwischenfälle wird als höher als zur Zeit des Kalten Krieges eingeschätzt. Und ungebremster Naturtourismus und industrieller Fischfang bedrohen die Lebensgrundlagen der Inuit.

Wenn 60 Prozent aller in den USA verzehrten Fische aus der Beringsee und genauso viele in Europa aus der Barentssee stammen, werden Kabeljau und Co zum Politikum. In dem neuen Meer des Nordens muss sich erst ein Gleichgewicht zwischen invasiven und heimischen Arten bilden. Immer wieder tauchen neuartige Raubfische und unbekannte Bakterien auf. Und Arten wie Krebs oder Kapelan ziehen um, während Hering und Tintenfisch durch Krankheiten dezimiert werden, die sich in den einst kälteren Gewässern nicht ausbreiten konnten.

Donald Trumps "Polar Rush", sein Interesse an Grönland, das Aufrüsten der Eisbrecher, Umsiedelungen: Um die Polkappe wird gekämpft. Dass sich die zerstörerische Kraft der Erderwärmung gerade hier mit voller Wucht entfaltet, spiegelt sich in den Medien nur unzureichend wider. Bücher und Artikel von Klima- und Meeresforschern, Wirtschaftswissenschaftlern und Fachleuten für Geopolitik und Militärstrategie lesen sich apokalyptisch, aber ohne persönlichen Bezug.

Mian will es anders machen, denn er findet: "Noch immer nehmen wir die Ereignisse dort oben nämlich wahr, als handele es sich um Probleme von einem anderen Stern.“ Seine Geschichten aus der Arktis lesen sich spannend wie ein Science-Fiction-Roman, sind aber bittere Realität. Es geht um Fragen wie: Gibt es in Europa bald kein kontinentales Klima mehr ? Wie weit entfernt sind wir vom Worst-Case-Szenario, bei dem sich der Golfstrom so weit schwächt, dass der Motor der Meeresmaschine und des globalen Klimas, der Beaufortwirbel, zu pumpen aufhört ? Droht in der Arktis ein Atomkrieg ? Wird Grönland zum Kongo des Nordens ?

Mian besucht Geologen, Archäologen, Ex-Nato-Kommandanten, Sicherheitsanalysten und indigene Bewohner. Er trifft Helden des Widerstands, die sich vor den Panzern des Profits aufbauen und ihr Recht verteidigen, sich nicht am allgemeinen Wettlauf zu beteiligen, und hört von russischen Spionen, die sich als Vogelforscher ausgeben, aber Spatz und Krähe kaum auseinanderhalten können. Dabei gelingt es ihm, die komplexen Themen Klimawandel, Energiegewinnung und Landnutzung mit ihren umweltwirtschaftlichen, energietechnischen, sozialen und militärstrategischen Aspekten differenziert darzustellen. Sein Buch ist packend, schaurig und schön zu lesen, lehrreich und dabei undogmatisch. Man fühlt sich, als wäre man selbst im Luftverschmutzungs-Messlabor oder im Nickel- und Kupferwerk, in der finnischen Sauna oder beim Walfleischaufteilen dabei.

Eines ist die Arktis für uns alle gleichermaßen: lebensnotwendig. Früher war der Permafrost die Gefriertruhe unserer Erde. Heute ist er höchstens noch ein Kühlschrank. Allein durch die 2012 geschmolzenen Eismassen wird die Erderwärmung so sehr verstärkt wie durch 25 Jahre des derzeitigen menschengemachten CO2-Ausstoßes. Es würde also nicht schaden, wenn wir uns für die Arktis zu interessieren begännen. Mit diesem Buch fällt das nicht schwer.


Marzio G. Mian zählt zu den wenigen internationalen Journalisten, die die Arktis systematisch bereist haben. Er ist Mitbegründer der Non-Profit-Organisation The Arctic Times Project (USA) und arbeitet regelmäßig u. a. für die RAI, Il Giornale, La Repubblica und L’Espresso.

Mian Marzio G., 2019, Die neue Arktis, Folio Verlag, Wien, Bozen