Verspätete Winterbilanz


Seilbahnen und Schutzhütten sind geschlossen. Die Gletscher sind im Spätwinter weitgehend sich selbst überlassen. Selbst für Forscher waren sie in den letzten Wochen unerreichbar. Das verschiebt die alljährliche Winterbilanz. Erste Einschätzungen sind nicht sehr optimistisch, schreiben Andrea Fischer und Hans Wiesenegger in ihrem Gletschertagebuch.

Auch wir Glaziologen haben in der Quarantäne das Haus nicht verlassen, keinen Sport gemacht und waren nicht auf den Gletschern. Die Bekämpfung der Coronavirus-Krise hat natürlich derzeit absoluten Vorrang, und wir leisten gerne unseren Beitrag. Die Untersuchung historischer Pandemien zeigt aber, dass die Vernachlässigung anderer Sektoren zu einer Verlängerung bzw. Verschärfung der Krise führen kann.

Gerade jetzt müssen wir also auch andere Entwicklungen im Auge behalten, sei es im Bereich der Wirtschaft oder des Sozialsystems, beim Klimawandel oder den Wasserhaushalt der Alpen − viele Ressourcen sind durch die Krise gebunden, wir sind als Gesellschaft gerade besonders verwundbar. Deshalb müssen wir jede weitere potentielle Gefahr früh genug erkennen, um reagieren zu können.

Und so haben − ermöglicht durch die ersten Lockerungen − gerade erst die Erhebungen zu den Schneemengen des Gletscherwinters begonnen. Sie gestalten sich durch die langen Wege heuer besonders aufwendig, und es ist nicht absehbar, wann sie genau abgeschlossen werden können. Deshalb geben wir hier nur eine kurze Einschätzung der Situation.

Die letzten Monate, in denen normalerweise einiges an Schnee auf den Gletschern dazukommt, waren im gesamten Alpenraum extrem trocken. Regional wurde das Auslassen der Niederschläge im Spätwinter durch die extremen Niederschläge im November, die Schnee und auch Lawinen bis in die Täler gebracht hatten, ausgeglichen. Teilweise scheint die Schneelage unterdurchschnittlich zu sein. Genaueres werden wir um Pfingsten wissen, wenn die Messwerte vorliegen.

Die Wetter- und Lawinenwarndienste betreiben im Hochgebirge viele Wetterstationen mit automatischer Schneehöhenmessung. Allerdings wird der Schnee in der Höhe immer durch Wind verfrachtet, und die Abschätzung der mittleren Schneehöhe braucht mehrere Werte im Gebiet. Auch die Dichte des Schnees kann sehr unterschiedlich sein, und so kann die Schneedecke bei gleicher Höhe unterschiedlich viel Wasser enthalten. Bei Schneefällen im Spätwinter kann die Schneehöhe durch Setzung abnehmen, obwohl der Wassergehalt zunimmt. Bei den Messungen am Gletscher werden daher an über hundert Stellen die Schneehöhe sondiert, und mehrere Schneeschächte zur Bestimmung der Dichte gegraben. Auf diese Weise kann man die im Schnee gespeicherte Wassermenge am gesamten Gletscher genauer bestimmen, als dies mit einer einzelnen Schneehöhenmessung möglich wäre.

In den Alpen gibt es noch einige Hochgebirgsobservatorien, wie etwa an der Rudolfshütte im Stubachtal, am Rauriser Sonnblick oder an der Zugspitze, die dauernd besetzt sind und von denen wir auch in Krisenzeiten verlässliche Daten bekommen. Aus den in den Tälern gemessenen Schneehöhen und Niederschlagsmessungen kann man nämlich nur bedingt auf die Schneehöhen im Gebirge schließen: Die Luftmassen heben sich am Gebirge, und so steigt der Niederschlag mit der Höhe an, wobei der Unterschied zwischen Tal und Berg nicht immer gleich ist, sondern von vielen Faktoren, wie etwa der Anströmungsrichtung abhängt.

Im Nahbereich des Totalisators am Stubacher Sonnblickkees, der auch im Winter einmal monatlich gemessen wird, liegt aktuell im Vergleich zum Vorjahr deutlich weniger Schnee.

Auch die automatische Schneehöhenmessung am Weißsee im Nahbereich der Rudolfshütte, die gut mit den von den Wetterbeobachterinnen händisch gemessenen Werte übereinstimmt, zeigt ein ähnliches Bild: Nur geringer Neuschneezuwachs im Hochwinter und ab Anfang April einsetzende Schmelzprozesse ergeben im Vergleich zum langjährigen Mittel unterdurchschnittliche Werte.
Die am 16. April durchgeführte Winterbegehung war aufgrund der Ausgangsbeschränkungen logistisch deutlich aufwendiger als sonst. Als Ergebnis aus höhenverteilten Sondierungen und Messungen an mehreren Schächten wurde am Stubacher Sonnblickkees eine mittlere Schneehöhe von 3,5 Metern errechnet.

Als Ergänzung zu den "konventionellen" Messungen wurde am 23. April wieder eine Befliegung des Gletschers mit einer Kameradrohne und definierten Passpunkten durchgeführt und so die Volumensänderung seit Herbst 2019 ermittelt, die größenordnungsmäßig gut zur klassischen Methode passt.

Auch am Dachstein ist die Schneelage an der Messstation unterdurchschnittlich, wie Kay Helfricht vom Institut für interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften berichtet. Während diese Gletscher durch zwei Seilbahnen normalerweise leicht zur erreichen sind, ist der Dachstein nun wieder zu einer anspruchsvollen und sehr langen Tour geworden − ohne Aufstiegshilfen und Hütten wie zu Zeiten des Dachsteinpioniers Friedrich Simony.

Am Rauriser Sonnblick liegt laut Anton Neureiter von der ZAMG etwa ein Meter Schnee weniger als im Durchschnitt der letzten 30 Jahre. Hier profitieren wir vom ständig besetzen Hochgebirgsobservatorium am Gipfel des Hohen Sonnblick, wo auch immer händisch Schneehöhenmessungen durchgeführt werden. Gerade unter derzeitigen Bedingungen wird der Wert einer solchen Einrichtung deutlich.

Auch die automatische Wetterstation am Goldbergkees zeigt eine unterdurchschnittliche Schneehöhe. Normalerweise nimmt die Schneedecke im April an Mächtigkeit noch zu. Die maximale Schneehöhe wurde in der bisherigen Akkumulationsperiode schon im März erreicht. Die weitere Einwicklung kann man live auf den Kameras der ZAMG verfolgen (Freiwandeck, Kleinfleisskees, Goldbergkees, Sonnblick).

Die aktuellen Schneehöhen am Mullwitzkees liegen um durchschnittlich ca. 0,5 Meter unter der mittleren Schneehöhe seit Beginn der Frühjahrsmessungen im Jahr 2007. Im Vergleich zum vergangenen, bisher schneereichsten Winter 2018/19, beträgt der Unterschied ca. 1,5 Meter.

Am Jamtalferner in der Silvretta dürfte die Schneemenge des Winters unterdurchschnittlich ausgefallen sein. Die automatische Schneehöhenmessung zeigt standortbedingt weniger Schnee als tatsächlich im Gebiet liegt, im Vergleich zu den Vorjahren sind starke Schneefallereignisse im Hoch- und Spätwinter weitgehend ausgeblieben. Noch ist der Zug nicht abgefahren, bis etwa Ende Juni kann mit den Starkniederschlägen des Frühsommers noch einiges an Schnee dazukommen.

Die automatische Wetterstation auf der Weissseespitze (Martin Stocker Waldhuber, IGF/ÖAW), dem höchsten Punkt des Gepatschferners im Tiroler Kaunertal, zeigte am 1. April 2020 eine Schneehöhe von nur 0.5 Meter, das ist etwa die Hälfte des besonders schneereichen Vorjahres. In der Höhe nimmt nicht nur der Niederschlag, sondern auch der Abtrag durch Wind zu, sodass an den Gipfeln generell wieder geringere Schneehöhen zu verzeichnen sind.

Für Südtirol erwartet Roberto Dinale vom Hydrographischen Amt Bozen aufgrund erster Messungen in tieferen Lagen eine annähernd normale Schneemenge auf den Gletschern. Der Hochwinter war zwar auch in Südtirol extrem trocken, aber auch hier wurde das von den starken Niederschlägen im November ausgeglichen. Die Messungen auf den Gletschern können hoffentlich ab 4. Mai mit weiteren Lockerungen der Quarantäne durchgeführt werden.

Laut Andreas Bauder von der ETH Zürich lagen die Schneehöhen in den Höhenlagen der Schweizer Gletscher zwischenzeitlich nahe am Durchschnitt, aber die letzten warmen Wochen haben nichts mehr geliefert. Seine Messung Mitte Februar am Silvrettagletscher ergab 2,3 bis gut drei Meter Schnee, das ist im Vergleich zum vergangenen Jahr mit drei bis 3.6 Meter Schnee ca. 70 Zentimeter weniger. In der Schweiz gibt es keine grundsätzliche Sperre, aber die Gletscher sind teilweise auch schwieriger erreichbar.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3200721/
(abgerufen am 17.05.2020)