Praxisferne Agrarforschung


Hunderte Millionen Menschen leiden weltweit täglich Hunger. Die Agrarforschung soll die betroffenen Regionen widerstandsfähiger machen. Doch eine Überblicksstudie zeigt: Die Ergebnisse haben oft wenig Relevanz für die Praxis.

"Zero hunger", kein Hunger bis zum Jahr 2030, das ist eines der Entwicklungsziele, die sich die Vereinten Nationen vor fünf Jahren gesteckt haben. Ob es erreicht werden kann, ist unsicher. Derzeit leiden 690 Millionen Menschen weltweit tagtäglich an Hunger, weitere 150 Millionen sind wegen der Folgen der Coronavirus-Pandemie armuts- und damit hungergefährdet.

Das Forschungskonsortium Ceres2030 hat analysiert, ob und wie die Agrarforschung dazu beitragen kann, dem weltweiten Hunger in den nächsten zehn Jahren ein Ende zu setzen. Mehr als 100.000 Arbeiten wurden begutachtet, mit dem Ergebnis, dass 95 Prozent dieser Publikationen für Kleinbauern und Kleinbäuerinnen nicht relevant sind.

Doch es seien gerade landwirtschaftliche Klein- und Familienbetriebe für die globale Nahrungsmittelproduktion entscheidend, sagt der Agrarökologe Michael Hauser. "Im Moment rechnen wir mit 570 Millionen landwirtschaftlichen Betrieben weltweit, davon sind 500 Millionen sogenannte Familienbetriebe und 475 Millionen sind kleiner als zwei Hektar", so Hauser gegenüber science.ORF.at.

Hauser forscht derzeit in Kenia am ICRISAT, einer internationalen Forschungseinrichtung, die die Ernährungssicherheit in Subsahara-Afrika verbessern möchte. Dort handelt es sich beim Großteil aller landwirtschaftlichen Betriebe um Klein- bzw. Familienbetriebe, die nicht nur die Bauern selbst mit Nahrung versorgen, sondern auch die stetig wachsenden Städte.

Eine große Herausforderung für diese Bäuerinnen und Bauern sei, dass sich die Umweltbedingungen immer schneller veränderten, betont der Agrarökologe. "Denken Sie an Klimaschocks oder plötzlichen Schädlingsbefall, das sind vollkommen neue Situationen für diese Betriebe, die ohne Unterstützung von außen nicht oder nur schwer zu bewältigen sind", so Hauser.

Dabei sei es allerdings entscheidend, die Bauern in die Forschungsprojekte einzubeziehen. In der Theorie hörten sich Unterstützungskonzepte oft hervorragend an, in der Praxis scheiterten sie jedoch an den Lebens- und Arbeitsumständen, meint Hauser. Er nennt als Beispiel ein Projekt zu Bewässerungsanlagen in Mozambik. Die künstliche Bewässerung allein, die Forschende dort einrichten konnten, war keine Unterstützung für die Betriebe.

Die künstliche Bewässerung kam zu wenig zum Einsatz, wurde zu selten gewartet und sorgte folglich immer wieder für Probleme. Erst Sensoren, die den Bauern über ein einfaches Ampelsystem den Zustand des Bodens anzeigten, halfen. In Folge sind die Trockenzeiterträge angestiegen und die die Getreideerträge waren insgesamt dreimal höher Getreideerträge als ohne dieses System.

Wichtigster Vorteil für die Bäuerinnen und Bauern war jedoch, sich Kraftstoff für die Wasserpumpen sparen zu können und damit Geld. Durch das effizientere Wassermanagement mussten sie die weniger oft einschalten. "Letztendlich hat diese Intervention, die Kombination aus Technik und Sozialem, zu einer Einkommenssteigerung um 25 Prozent geführt", sagt Hauser.

Dass Wissen und Probleme der Kleinbauern bis dato viel zu selten in der Forschung berücksichtigt werden und es andere entwicklungspolitischen Maßnahmen brauche, war vor kurzem auch Thema einiger Artikel in der Fachzeitschrift "Nature". Eine Kritik, der sich Hauser anschließt. Dass der Großteil der Forschungsergebnisse der Agrarwissenschaften für die am stärksten Betroffenen nicht relevant sei, liege auch am Wissenschaftssystem selbst.

"Die große Herausforderung derzeit ist, das Anreizsystem in der internationalen Agrarforschung zu ändern", so Hauser. Forschende würden, wie in allen anderen Fächern, anhand ihrer Publikationen in renommierten Fachmagazinen bewertet. "Praktische Erkenntnisse aus der Landwirtschaft lassen sich aber oft nicht in unmittelbar in Studien übersetzen", sagt der Agrarökologe. Die Finanzierung der Forschung orientierte sich aber an der Publikation. "Um den Hunger zu bekämpfen brauchen wir Forschung und Innovation, deswegen sollten wir das System, die Förderungen unbedingt neu aufstellen", so Hauser.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3202960/
(abgerufen am 18.11.2020)