Geburtentiefststand


Die Zahl der Geburten in China ist 2020 auf einen Tiefstand gefallen: Im Vergleich zu 2019 seien 15 Prozent weniger Neugeborene gemeldet worden, berichtete das Ministerium für öffentliche Sicherheit in Peking. Die Zahl sei von 11,79 auf 10,04 Millionen gesunken. Eine "Warnschwelle" sei unterschritten, hieß es in offiziellen Medien. Experten warnten am Mittwoch vor einer Überalterung im bevölkerungsreichsten Land der Erde, die deutlich schneller als erwartet voranschreitet.

Die beschleunigte Überalterung werde das Wachstum der zweitgrößten Wirtschaftsnation bremsen, so die Warnung der Fachleute. Die jährliche Geburtenrate hatte nach Angaben des Statistikamtes bereits 2019 den niedrigsten Stand seit Gründung der Volksrepublik 1949 erreicht. Als Gründe wurden die hohen Kosten für Bildung und Wohnungen in China genannt. Auch geht die Zahl der Eheschließungen zurück, während die Scheidungsrate in China hoch ist. Viele Paare warten auch mit der Heirat und gründen erst später Familien.

Die Aufhebung der seit 1979 geltenden Einkindpolitik hatte 2016 nur zu einem leichten Anstieg der Geburten geführt, doch ist die Zahl seither jedes Jahr weiter gefallen. Das genaue Ausmaß des Rückgangs wird sich im April zeigen, wenn das Statistikamt die Zahlen für 2020 vorlegen will. Experten wiesen darauf hin, dass die berichtete Zahl der neu beantragten Wohnortregistrierungen nicht alle Geburten abbilde, da viele Babys nicht angemeldet werden.

Doch der besorgniserregende Trend ist klar. "Niemand will noch Kinder haben", sagte der Familienplanungsexperte und bekannte Autor Yi Fuxian von der US-Universität von Wisconsin in Peking. Die jahrzehntelange Einkindpolitik habe "das Fruchtbarkeitskonzept der Menschen verändert". "Die Menschen haben sich daran gewöhnt, nur ein Kind zu haben", sagte Yi: "Das Konzept ist tief verwurzelt und nur schwer zu ändern."

Auch seien die Ausgaben, um Kinder in China großzuziehen, höher als selbst in fortschrittlicheren Wirtschaftsnationen wie Taiwan und Südkorea. "Auf der einen Seite ist die Scheidungsrate in China hoch, auf der anderen gehen die Trauungen zurück", sagte Yi weiter, "das ist sehr beunruhigend." Er warnte vor den wirtschaftlichen Folgen der Überalterung und des Rückgangs der arbeitsfähigen Bevölkerung. "Wenn die Zahl der Arbeitskräfte geringer wird, beginnt der Niedergang der Wirtschaft", sagte der Experte.

Chinas Wachstum werde abflachen, so Yi weiter. Nach Schätzungen werde der Zuwachs in China in den Jahren 2030 bis 2035 langsamer ausfallen als in den USA, so Yi. "Es wird unmöglich, die USA als größte Volkswirtschaft abzulösen." Experten wiesen auch darauf hin, dass weniger arbeitende Menschen in China damit immer mehr Ältere versorgen müssen. Heute ist jeder fünfte Chinese über 60 Jahre alt.

Inwieweit sich die CoV-Pandemie auf den Rückgang der Geburten auswirkt, ist noch unklar. Ein Babyboom durch die wochenlangen Ausgangssperren für Millionen ist auf jeden Fall ausgeblieben. China hat das Virus seit dem Sommer zwar weitgehend im Griff, doch könnten die allgemeinen Unsicherheiten die Bereitschaft gedämpft haben, jetzt Kinder in die Welt zu setzen. Ungeklärt blieb auch, ob die Pandemie besonders in der ersten Hälfte des Jahres auch zu Verzögerungen bei der Wohnortanmeldung von Babys geführt hat.

Der starke Rückgang spiegelt sich allerdings in bereits vorliegenden Geburtenzahlen aus Metropolen wie Guangzhou, Yinchuan, Wenzhou und Weifang wider, die laut Presseberichten ein Minus von neun bis 26 Prozent zeigen. Auch sprach die Zeitung "Global Times", die vom kommunistischen Parteiorgan "Volkszeitung" herausgegeben wird, von einer "Warnschwelle", die mit nur noch zehn Millionen gemeldeten Neugeborenen unterschritten worden sei.

Zusätzlich hat sich das Ungleichgewicht zwischen Buben und Mädchen weiter verschlechtert. Da männliche Nachkommen in China bevorzugt werden, weil Töchter in andere Familien wegheiraten, werden heute statistisch 117 Buben auf 100 Mädchen geboren, wie das Magazin "Yicai" aus einer jüngsten Studie berichtete. Obwohl geschlechterspezifische Abtreibungen in China nicht erlaubt sind, hat sich das Verhältnis stetig verschlimmert. Der Überschuss führt auch dazu, dass viele Millionen Männer keine Frau finden und damit keinen Nachwuchs zeugen.

Trotz aller Widrigkeiten durch die CoV-Krise will China weiter für Wirtschaftswachstum sorgen. "Durch unermüdliche Anstrengungen werden Chinas wirtschaftliche Grundlagen noch solider", sagte Ministerpräsident Li Keqiang per Videobotschaft auf einer Onlineveranstaltung der chinesischen Handelskammer in Großbritannien Anfang Februar.

Die Volksrepublik hatte 2020 als einzige große Wirtschaftsnation weltweit ein Wachstum hingelegt: Mit Blick auf den erreichten Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 2,3 Prozent sprach Li von einem "wirklich hart erkämpften Ergebnis". Im Kampf gegen Covid-19 sei die Welt jedoch weiter mit vielen Unsicherheiten und destabilisierenden Faktoren konfrontiert.

Für dieses Jahr sind die Aussichten besser. Ein Grund dafür: Der Exportweltmeister stellt viele Waren her, die in der CoV-Krise gefragt sind − von medizinischer Ausrüstung wie Atemmasken bis zu Computern für das Homeoffice. Von Reuters befragte Ökonomen sagen der Volksrepublik einen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts von 8,4 Prozent voraus.

Quelle:
https://orf.at/stories/3200869/
(abgerufen am 11.02.2021)