Früherer Aufenthalt


Wann die ersten Menschen Europa besiedelt haben, ist nicht ganz klar. Noch weniger weiß man darüber, wie sie sich daraufhin auf dem Kontinent ausbreiteten. Knochen− und Werkzeugfunde aus Deutschland zeigen nun aber, dass sich der Homo sapiens schon mindestens 5.000 Jahre früher im Norden Europas aufhielt als bisher vermutet.

Der Homo sapiens erreichte das nordwestliche Europa lange bevor die Neandertaler in Südwesteuropa verschwanden. Eindeutige Beweise dafür fand ein internationales Forschungsteam vor Kurzem in Deutschland. "Die Funde stammen aus der malerischen Ilsenhöhle in Ranis, einem kleinen Städtchen in Mitteldeutschland", erzählt der Archäologe Marcel Weiß von der deutschen Friedrich−Alexander−Universität gegenüber science.ORF.at.

In der Höhle direkt unter der Burg Ranis entdeckten die Forscherinnen und Forscher Knochenfragmente und Werkzeuge in rund acht Meter Tiefe, die sie mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Methoden untersuchten. Dabei zeigte sich, dass es sich bei den rund 45.000 Jahre alten Funden tatsächlich um die frühesten Belege für Homo sapiens in Mittel− und Nordwesteuropa handelte, die das Team derzeit auch im Fachjournal "Nature" präsentiert. "Es war bereits bekannt, dass es vor rund 40.000 Jahren relativ große Wellen an modernen Menschen gegeben hat, die nach Europa gekommen sind. Jetzt haben wir aber eine Menschengruppe nachgewiesen, die schon mindestens 5.000 Jahre früher im nördlichen Europa unterwegs war", so Weiß.

Bereits in den 1930er Jahren machten Archäologen bei Grabungen in der Ilsenhöhle erstaunliche Entdeckungen. Damals kamen alte Knochenreste sowie auch recht kunstvoll gefertigte blattförmige Steinklingen zutage, die man auch schon an anderen Ausgrabungsstellen nachweisen konnte. Die wichtigsten Fundorte dieser "Blattspitzen"−Kultur (auf Englisch "Lincombian−Ranisian−Jerzmanowician"−Epoche oder kurz "LRJ") liegen auf den britischen Inseln, im heutigen Deutschland, Mähren und Polen, was auf eine weite Verbreitung der Fertigungsweise schließen lässt.

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Ob tatsächlich der Homo sapiens oder vielleicht doch die Neandertaler für die recht komplexen Werkzeuge verantwortlich waren, wurde unter Archäologen lange Zeit diskutiert. "So lang wie diese Steingeräte bekannt sind, so lange gibt es auch Debatten darüber, wer sie gemacht hat", sagt Weiß. Wegen des hohen Alters der Werkzeuge und dem Wissen, dass Neandertaler schon sehr viel früher in Europa lebten als die Homo sapiens, wurden sie oft eher ersterer Gruppe zugeschrieben. Das Problem: "Es konnte den Werkzeugen nie ein Fossil (Anm.: z. B. Knochenreste) zugewiesen werden, das gleich alt ist und damit auch eindeutig belegt, dass die Steingeräte von der jeweiligen Gruppe genutzt wurden", so der Archäologe. "Wir haben das jetzt zum ersten Mal geschafft."

In Verbindung mit den gefundenen Knochen, die das Team in neuen Ausgrabungsarbeiten von 2016 bis 2022 sammelte, konnten die Forscherinnen und Forscher erstmals klar zeigen, dass der Homo sapiens für die recht komplexen Werkzeuge verantwortlich war. Zum Einsatz kamen die Steingeräte vermutlich vor allem als Messer und Speerspitzen bei der Jagd auf Rentiere, Wollnashörner und Pferde. In einer weiteren Studie mit Analysen der Knochenfragmente ermittelte das Team diese Tierarten als Hauptbeute der in der Ilsenhöhle gefundenen Homo sapiens.

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Vor rund 45.000 Jahren herrschten in den nordwestlichen Teilen Europas noch eiszeitlich−tiefe Temperaturen, wie das Team in einer dritten Studie belegt. Lange ging man davon aus, dass sich der Homo sapiens nicht sehr gut an diese Bedingungen anpassen konnte. Ob es sich bei der Ilsenhöhle für die damaligen Menschen daher nur um eine Art Außenposten oder Jagdlager handelte, ist heute nur noch schwer nachvollziehbar. "Die Ilsenhöhle war aber jedenfalls kein großes Basislager, in dem verschiedene Werkzeuge hergestellt wurden oder in dem man für eine längere Zeit gelebt hat", so Weiß.

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Wahrscheinlicher sei eine Aneinanderreihung verschiedener kurzer Aufenthalte der Homo sapiens, die immer wieder in die Höhle zurückkamen. Neben den Überresten dieser Aufenthalte konnte das Team auch Hinweise darauf finden, dass die Ilsenhöhle zwischenzeitlich von Raubtieren wie Hyänen und Höhlenbären bewohnt war.

Parallel zu den neuen Ausgrabungen wurden auch die alten Funde aus den 1930er Jahren neu untersucht, die sich im Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen−Anhalt in Halle befinden. Die Forscherinnen und Forscher wollten herausfinden, ob es sich dabei ebenfalls um die Knochenüberreste von Homo sapiens handelte. Die Fragmente aus der Altgrabung wurden daher Stück für Stück begutachtet, was mit der Entdeckung einiger neuer Menschenknochen belohnt wurde.

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Nach der erfolgreichen Identifizierung von insgesamt 13 menschlichen Skelettüberresten aus beiden Ausgrabungen entnahmen ihnen die Forscherinnen und Forscher DNA und analysierten das Erbgut der in der Höhle gefundenen Überreste. "Wir haben dabei nicht nur gesehen, dass die Skelettfragmente tatsächlich von Homo sapiens stammten, sondern auch, dass mehrere von ihnen identische Sequenzen von mitochondrialer DNA aufwiesen. Die Knochen müssten daher eigentlich von derselben Person oder zumindest von einem nahen Verwandten mütterlicherseits stammen."

Aufgrund der neuen Erkenntnisse ist es laut dem Archäologen nun erstmals nötig, die Vorstellungen darüber grundlegend zu überdenken, wann der moderne Mensch die Fähigkeit entwickelte, in so unwirtlichen Umgebungen zurechtzukommen. Wahrscheinlich war die Sogwirkung der großen Wildtierherden in den Kältesteppen ein noch wichtigerer Faktor für die Ausbreitung des Menschen in Richtung Norden als zuvor vermutet.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3223403/
(abgerufen am 09.02.2024)