Klimaflucht


Welche Rolle Klimaveränderungen und Erderwärmung für Migration und Flucht spielen, wird in Politik und Öffentlichkeit heftig diskutiert. Dabei gibt es noch viele offene Fragen. Ein neues internationales Forschungsnetzwerk, an dem auch die Universität Wien beteiligt ist, will die Debatte nun auf ein wissensbasiertes Fundament stellen.

Die Folgen des Klimawandels sind in Europa bereits spürbar. In Italien oder Frankreich kommt es regelmäßig zu Wasserknappheit, Spanien wird bereits im Frühling von Hitzewellen geplagt. In anderen Weltregionen sind die klimakrisenbedingten Veränderungen wesentlich verheerender. In Äthiopien oder Burkina Faso sorgen anhaltende Dürren für Hungersnöte, in Zentralthailand verwüsten Überschwemmungen die Landwirtschaften.

In Folge ist die lokale Bevölkerung gezwungen, wegzuziehen. Ziel sind meist nahegelegene Städte. Zum Ausmaß dieser Binnenmigration gibt es jedoch nur Schätzungen. Genauer Zahlen und bessere Prognose möchte nun ein internationales Forschungsnetzwerk, das Environmental & Climate Mobilities Network, dem auch die Universität Wien angehört erarbeiten.

Die Gründungskonferenz des Forschungsnetzwerks, dem auch die Universitäten Wageningen in den Niederlanden und Liége in Belgien sowie die United Nations University angehören findet derzeit in Wien statt. "Es gibt viele offene Fragen, was das Ausmaß der durch Klimawandel und Umweltveränderungen hervorgerufenen Migration betrifft", sagt Patrick Sakdapolrak, Professor für Bevölkerungsgeographie und Demographie an der Universität Wien, im Gespräch mit science.ORF.at. Diese Fragen wollen man interdisziplinär untersuchen und nun verstärkt Daten austauschen.

Die jüngsten Prognosen zur Klimamigration stammen von der Weltbank: Bis zum Jahr 2050 könnte die Erderwärmung bis zu 216 Millionen Menschen dazu zwingen, ihre Wohnorte zu verlassen und innerhalb ihrer Länder zu migrieren. Die Ursachen sind der drohende Rückgang landwirtschaftlicher Produktion, Wasserknappheit und der steigende Meeresspiegel. Doch, das betont Sakdapolrak, es brauche mehr Forschung zu den tatsächlichen Fluchtursachen. Denn die Folgen der Klimakrise wirkten immer mit anderen Faktoren zusammen.

"Je weniger ein Haushalt, eine Region oder ein Land über die Kapazitäten verfügt, mit Klima− und Umweltstress umzugehen, desto wahrscheinlicher ist es, dass auch Migration bzw. Fluchtmigration stattfindet", so der Bevölkerungsgeograph. Bekannte Beispiele sind Länder wie Bangladesh, die Philippinen oder die Marshall−Inseln im Nordpazifik, wo der steigende Meeresspiegel immer mehr Menschen verdrängt.

Aber auch innerhalb Europas werden Klimafluchtbewegungen zunehmen. Im Süden Spaniens gab es bereits im April die erste Hitzewelle − die Waldbrandgefahr wurde auf die höchste Stufe gesetzt. Laut EU−Kommission sind in Europa zwischen 1980 und 2020 mehr als 138.000 Menschen wegen extremer Wetter− und Klimaereignisse umgekommen. Die wirtschaftlichen Kosten von Flussüberschwemmungen in Europa betragen im Schnitt mehr als fünf Milliarden Euro pro Jahr.

Hier brauche es wesentlich mehr Forschung, um die Folgen besser abschätzen zu können, sagt Sakdapolrak. "Wie wirken sich die Klimaveränderungen in einem Land wie Österreich auf die Einkommensmöglichkeiten, etwa auf den Tourismus aus?", so Sakdapolrak. Solche Fragen wolle man in Zukunft genauer bearbeiten. Aber auch in den reichen Industrieländern Europas zeige sich, dass die veränderten Umweltbedingungen nur Mitauslöser von Migration seien.

Klimawandel und Umweltkatastrophen seien als Fluchtursachen in jeder Region schwer zu isolieren, betont der Forscher. Bessere Arbeitschancen oder zunehmender Bevölkerungsdruck spielten mit den veränderten Umweltbedingungen zusammen. Die könnten auch Gewalt und Konflikte anheizen, dürften aber nicht, wie im Fall des Syrienkriegs und der damit verbundenen Bevölkerungsflucht als eine Art Feigenblatt für ein autoritäres Regime missbraucht werden.

Umgekehrt dürften sich die reichen Länder des globalen Nordens nicht ihrer Verantwortung entziehen: Die westlichen Industriestaaten sind die Hauptverursacher von Klimaschäden, unter denen Menschen in Entwicklungs− und Schwellenländern leiden. Hier brauche es mehr finanzielle Unterstützung für Anpassungsmaßnahmen, um es den Betroffenen zu ermöglichen, ihre Wohnorte nicht verlassen zu müssen. Und es brauche neue völkerrechtliche Vereinbarungen, die Klimaflucht anerkennen und die Bereitschaft anderer Länder, Klimaflüchtlinge aufzunehmen.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3220279/
(abgerufen am 12.07.2023)