Verunsicherung


Statt des erhofften Aufschwungs nach Ende der CoV−Beschränkungen ist Chinas Wirtschaft ins Straucheln geraten. Dass die Entwicklung sich in einigen Bereichen verlangsamen würde − allen voran auf dem überhitzten Immobilienmarkt −, sei erwartbar gewesen, sagt der China−Experte Max Zenglein gegenüber ORF.at. Die Staatsführung habe allerdings unterschätzt, wie tief die Verunsicherung in Bevölkerung und Wirtschaft sei.

"Es gibt derzeit wenige Lichtblicke", sagt Zenglein, Chefökonom des Mercator Institute for China Studies (MERICS). Lang ist dagegen die Liste der Probleme. Die Jugendarbeitslosigkeit lag offiziell zuletzt bei 21 Prozent. Fachleute gehen von einer weit höheren Zahl aus. Chinas Statistikamt hat die Veröffentlichung der entsprechenden Zahlen mittlerweile eingestellt.

Während die westlichen Industrienationen mit teils hohen Inflationsraten kämpfen, zeigt China deutliche Zeichen einer Deflation. Exporte und Importe gingen zurück, Konsum und Industrieproduktion wuchsen langsamer als erwartet. Das von der Regierung ausgegebene Wirtschaftswachstumsziel von fünf Prozent im Jahr 2023 könnte nach Einschätzung von Investmentbanken und Analysten verfehlt werden.

Drängendstes Problem sind aktuell aber die Turbulenzen auf dem Immobilienmarkt. Großkonzerne wie Evergrande und Country Garden befinden sich in finanzieller Schieflage, die Sorge vor einem Übergreifen der Krise auf andere Wirtschaftsbereiche und dem Beginn einer Finanzkrise ähnlich jener von 2007/2008 wächst.

In den vergangenen Jahren machte der Immobiliensektor zeitweise 20 bis 30 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts (BIP) aus. Für lokale Behörden bildete der Verkauf von Land eine lukrative Einnahmequelle. Für die Mittelschicht wiederum waren Immobilien die wichtigste Form der Geldanlage. Viele Familien steckten ihr Erspartes in den Kauf von Wohnungen und Häuser, die derzeit drastisch an Wert verlieren.

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Dass die chinesische Staatsführung von der Krise des Immobilienmarktes überrascht wurde, glaubt Zenglein nicht. Im Gegenteil: Die Regierung habe im Sektor eingegriffen − im Bewusstsein, "dass das Wachstum nicht nachhaltig war und zu Verschuldungsproblemen geführt hat", so der Wirtschaftsforscher. "Das Gesundschrumpfen wäre aber weniger dramatisch, wenn andere Bereich − und hier speziell der Konsum − nicht schwächeln würden."

Beim Thema Konsum kommt aus Sicht des Ökonomen die Unsicherheit ins Spiel, die stark mit den Maßnahmen der Regierung in den vergangenen Jahren zusammenhängt. Dabei geht es nicht nur um die rigiden Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus. Zenglein verweist auf den "Crackdown" im IT−Bereich. In den vergangenen zwei Jahren wurden die Konzerne mit Sanktionen und Strafen auf Linie gebracht. Über "Goldene Aktien" − Wertpapiere, die Aktionären Sonderrechte einräumen − beteiligte sich der Staat direkt an den Techriesen Alibaba und Tencent.

Das harte Vorgehen der Führung illustriert der Fall Jack Mas. Der Gründer der Handelsplattform Alibaba wollte 2020 den Fintech−Konzern Ant Group an die Börse bringen. Nachdem die Aufsichtsbehörden das milliardenschwere Vorhaben untersagten, übte Ma scharfe Kritik, fiel bei der Staatsführung in Ungnade und verschwand aus der Öffentlichkeit. Nach mehreren Jahren im Ausland tauchte der Milliardär heuer im Frühjahr erstmals wieder in China auf.

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Für Chinas Mittelstand wiederum stellt die derzeitige wirtschaftliche Lage eine Zäsur dar. "Generationen von Chinesen sind mit dem Öffnungs− und Reformprozess groß geworden. Sie hatten die Erwartung, dass es jedes Jahr besser wird und die Gehälter steigen", so Zenglein. Die Jugendarbeitslosigkeit tut ihr Übriges. Viele Universitätsabsolventinnen und −absolventen aus der Mittelschicht finden keine oder nur schlecht bezahlte Arbeit und sind auf finanzielle Unterstützung ihrer Familien angewiesen. Entsprechend groß ist die Zurückhaltung bei größeren Anschaffungen und Investitionen.

Der chinesische Staatsrat kündigte ein Maßnahmenpaket zur Ankurbelung des Konsums an, darunter Unterstützungen für "grüne" Konsumgüter wie Elektroautos sowie für Kultur− und Sportveranstaltungen, mehr Ausgaben für Dienstleistungen wie die Gesundheitspflege, staatlich subventionierte Mietwohnungen und den Infrastrukturausbau auf dem Land.

Zudem sollen die Bedingungen für die Kreditvergabe gelockert werden. Die Banken werden einem Reuters−Bericht zufolge angehalten, ihre Investitionen in ausländische Anleihen zu reduzieren. Mit dem Schritt stemmt sich die Regierung gegen die Abwertung der Landeswährung Yuan.

Generell verlaufe die Reaktion der chinesischen Regierung "eher angebotsorientiert", sagt Zenglein. Wirtschaftlich sei dort eher die Frage, in welche Bereiche soll investiert und welche Industriezweige sollen unterstützt werden. Maßnahmen zur Steigerung der Nachfrage "wie Steuersenkungen und finanzielle Hilfe für Haushalte, die wir in Europa in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche als gegeben erachten, sind für China Neuland", sagt Zenglein.

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Wann sich die wirtschaftliche Lage bessern wird, ist schwer abzuschätzen. "Die Talsohle ist noch nicht erreicht", glaubt Zenglein. Trotz der bereits erkennbaren Probleme habe sich die Regierung beim Einsatz von stimulierenden Maßnahmen zurückgehalten. "Die Frage ist jetzt: Wird man das weiter aufrecht halten oder wird man versuchen gegenzusteuern ?"

Quelle:
https://orf.at/stories/3328413/
(abgerufen am 28.08.2023)