Gletschertagebuch


Die Gletscher der Alpen schmelzen weiter, vor allem dank der Schneefälle spät im Frühjahr und August ist 2021 aber kein Rekordjahr in Sachen Eisschmelze. Das ist das Fazit des aktuellen Gletschertagebuchs, das die beiden Glaziologen Andrea Fischer und Hans Wiesenegger schreiben.

Der Sommer 2021 war überdurchschnittlich warm, und die Gletscher haben entsprechend Substanz verloren. Im Bergland war es etwas kühler als im Osten Österreichs, die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) reiht ihn im HISTALP-Bericht als zehntwärmsten Sommer im Gebirge ein, die Sonnenscheindauer verdiente sich gar nur den 31. Platz in der bis 1770 zurückreihenden Zeitreihe.

Wir sind mit einem eher kühlen Frühling und einer recht guten Schneelage in den Sommer gestartet, und die Gletscher waren relativ lange unter der Schneedecke vor der Sonne versteckt. Am östlichen Alpenhauptkamm konnte sich auch mehr Winterschnee als in den letzten Jahren über den Sommer retten, dort schmolz weniger Eis ab als in den letzten Jahren. Ganz im Westen Österreichs, in der Silvretta, und am Hohen Dachstein liegen die Gletscher etwas tiefer, und haben 2021 fast die gesamte Winterschneedecke eingebüßt. Es waren die Schneefälle im August, denen wir den dennoch glimpflich ausgefallenen Eisverlust des Sommers 2021 verdanken.

Gletschertagebuch 01

Die nunmehr sehr dunklen Gletscher, die noch am 4. Oktober völlig schneefrei dem Regen ausgesetzt sind, stellen allerdings ein Landschaftsbild dar, an das wir uns erst gewöhnen werden müssen. Der Zerfall des Eises geht unvermindert weiter. Am Jamtalferner in der Silvretta wurde ein Teil der Schmelzpegel durch Messstellen zur Erfassung der Rückeroberung der nunmehr eisfreien Flächen ersetzt. In den letzten Jahren beschränkt sich der Rückgang nicht mehr nur auf die Zungen, auch an den obersten Höhenzonen weicht das Eis der Blumenpracht. Dieser Vorgang kann in einem Projekt der ÖAW live per Webcam am Jamtalferner auf 2.920 Meter Seehöhe verfolgt werden. Wie schnell das Eis verschwindet, kann man aus Messungen der bisherigen Schmelze, Klimaszenarien und Radarmessungen der Eisdicken ableiten: Für den Hallstätter Gletscher gibt es jetzt eine App die den zukünftigen Rückgang des Gletschers zeigt.

Gletschertagebuch 02

Am Stubacher Sonnblickkees ließen die späten Schneefälle im Mai die Schneedecke am "Filleckboden" auf 480 Zentimeter anwachsen, ein sehr warmer und trockener Juni, gefolgt von einem ebenso warmen Juli bewirkten jedoch ein rasches Abschmelzen der Schneereserven auf nur mehr 70 Zentimeter Anfang August. Mitte August war das Stubacher Sonnblickkees bereits großteils ausgeapert.

Gletschertagebuch 03

Zwar verringerten Schneefälle Ende August sowie im September das weitere Abschmelzen, das Jahr 2021 wird jedoch als weiteres Jahr mit Massenverlust in die langjährige Messreihe eingehen.

Gletschertagebuch 04

Die von Bernhard Zagel vom Fachbereich Geoinformatik − Z_GIS, Universität Salzburg, am Ödenwinkelkees (ÖWK) durchgeführten Ablationsmessungen zeigten im Haushaltsjahr 2020/21 Werte von 1,5 bis drei Meter − bei einer Gletscherfläche von mehr als einem Quadratkilometer und einer durchschnittlichen Abschmelzung von zwei Metern wird mit einem Verlust von über zwei Mio. Kubikmeter Eis gerechnet. Seit dem Hochstand um ca. 1850 hat der Gletscher ein Drittel seiner Gesamtlänge und die Hälfte seiner tiefliegenden Zunge verloren.

Gletschertagebuch 05

Die Entwicklung der sich deutlich verändernden Gletscherzunge zeigt die Visualisierung für 2020 und 2021 von Bernd Lackner und Manfred Mittlböck vom Z_GIS. Auffallend ist vor allem der große Einbruch im Bereich des Gletschertores, wo sich auch mehrere beeindruckende "Höhlen" ausgebildet haben.

Gletschertagebuch 06

Am Hallstätter Gletscher haben die Schneefälle im Mai noch für durchschnittliche Schneehöhen gesorgt, allerdings schmolz die weiße Pracht schon im Juni rasch. Kay Helfricht und Klaus Reingruber beobachteten die Ausaperung nahezu des gesamten Gletschers bis Mitte August, und es blieben nur mehr sehr geringe Rücklagen übrig. Schneefälle Ende August sowie im September verringerten die Ablation, konnten aber keine nennenswerte Schneedecke bis zum Ende des Bilanzjahres bilden. Daher wird das Jahr 2021 als eines der negativsten seit Beginn der Messung 2006 eingehen.

Am Kleinfleißkees fällt der Verlust geringer als im langjährigen Durchschnitt aus. Anton Neureiter (ZAMG) konnte sogar Schneerücklagen messen. Am Goldbergkees nahe der Klimastation am Hohen Sonnblick sieht es nach einem durchschnittlichen Jahr aus.

Beiderseits des Großvenedigers, im Süden am Mullwitzkees und im Norden am Venedigerkees schmolz etwa ein Meter Eis weniger als in den Vorjahren, bei leicht unterdurchschnittlichen Rücklagen, wie Martin Stocker-Waldhuber und Bernd Seiser vom IGF der ÖAW bei ihren Messungen erhoben. Am Venedigerkees besonders auffallend ist das Einsinken der Gletscherzunge.

Für den Vernagtferner berichtet Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften von einem etwas geringeren Verlust als in der letzten Dekade. Oberhalb von 3.200 Meter ist noch Altschnee vorhanden.

Am Hintereisferner gab es heuer ähnliche Massenrücklagen wie im Vorjahr, durch geringere Eisschmelze aber eine bessere Massenbilanz, wie Rainer Prinz von der Universität Innsbruck berichtet. Der Hintereisferner bilanziert 2021 im Mittel der knapp 70-jährigen Zeitreihe und deutlich besser als im Mittel der letzten zehn Jahre. Am Kesselwandferner hielt sich etwas mehr Winterschnee. Dort ergibt sich eine fast ausgeglichene Bilanz. Auffallend waren heuer viele sommerliche Neuschneefälle, die besonders oberhalb von etwa 3.000 Meter die Albedo hochhielten.

Auch am Jamtalferner in der Silvretta schmolz etwa ein Meter weniger Eis als in den Vorjahren, wie Lea Hartl (IGF/ÖAW) von den Messungen berichtet. Der Winterschnee ist allerdings fast vollständig abgeschmolzen, der Gletscher war bis 4. Oktober bis zu den Gipfeln schneefrei. Die Zunge zeigt starke Zerfallserscheinungen und ist über weite Teile unterhöhlt.

Für den Seekarlesferner berichtet Markus Strudl von einem kleineren Verlust als in den letzten Jahren. Dennoch setzt sich der Zerfall des Gletschers weiter fort.

Für Südtirol rechnet Roberto Dinale von Amt für Hydrographie und Stauanlagen mit geringeren Massenverlusten als im langjährigen Mittel. An Langenferner, Übeltalferner und am Rieserferner liegen über etwa 3.100 Meter noch etwa 50 Zentimeter Altschnee vom letzten Winter, am Rieserferner ist auch Schnee vom Winter 2019/2020 dabei. Massive Änderungen gibt es überall in den Zungenbereichen.

Aus der Schweiz berichtet Andreas Bauder von der ETH Zürich zwar von Massenverlusten, diese fallen aber geringer als im Mittel der letzten Dekade. Am Rhonegletscher wurde sogar der geringste Verlust seit mindestens 15 Jahren gemessen.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3209370/
(abgerufen am 23.10.2021)