Auf der Kippe


Bei der UNO-Klimakonferenz, die am Sonntag in Glasgow beginnt, steht die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels im Vordergrund. Mehr Sorgen als ein Überschreiten dieses Grenzwerts für die Erderwärmung bereiten vielen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen allerdings sogenannte Kipppunkte bei der Entwicklung des Klimas.

Alle, die schon mal auf einem Stuhl herumgekippelt haben, kennen das: Ab einem gewissen Punkt auf nur zwei der vier Stuhlbeine ist ein Umkippen nicht mehr aufzuhalten. Dieser Übergang zwischen zwei stabilen Zuständen ist ein Kipppunkt − und im komplexen Klimasystem der Erde gibt es eine ganze Reihe davon.

Ab gewissen Temperaturen schmelzen die Eisschilde Grönlands und der Westantarktis unaufhaltsam, verwandeln sich tropische Regenwälder in trockene Savannen und können kein klimaschädliches CO2 mehr binden. "Wir haben bereits eine Reihe von Kipppunkten bei Korallenriffen und Polarsystemen erlebt und weitere sind in nächster Zeit wahrscheinlich", heißt es im Entwurf eines Berichts des Weltklimarats IPCC, der der Nachrichtenagentur AFP bereits vorliegt.

Die dadurch ausgelösten Umweltveränderungen dürfte die Menschheit über Generationen, wenn nicht Jahrtausende nicht mehr in den Griff bekommen. Im August warnte der IPCC, anhaltend hohe Treibhausgasemissionen könnten die Erde in einen "permanenten heißen Zustand" versetzen. Der Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK), Johan Rockström, warnt daher: "Der Moment, in dem die Erde von einem selbstkühlenden System − das sie noch ist − in ein selbsterhitzendes kippt, ist der Moment, in dem wir die Kontrolle verlieren."

Joachim Schellnhuber, früherer PIK-Direktor und einer der ersten Wissenschaftler, die den Klimakipppunkten auf die Spur kamen, schildert diese Erkenntnis vor rund 15 Jahren so: "Es war ein bestimmter Moment." Im komplexen System des Erdklimas mit Faktoren wie dem Jetstream und den Meeresströmungen gebe es "so viele Punkte, an denen keine Umkehr mehr möglich ist".

In der Antarktis etwa drohen wegen der Erderwärmung rund die Hälfte der Eisschilde zu kollabieren, die ein Abgleiten von Gletschern ins Meer verhindern. "Es ist wie das Entkorken einer Flasche, und wir entkorken eine nach der anderen", sagt Schellnhuber. Die Schwellenwerte für die Klimakipppunkte liegen bei unterschiedlichen Temperaturen, bei welchen genau, weiß die Wissenschaft allerdings noch nicht.

Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nennen etwa 15 bedeutende Kipppunkte im Klimasystem der Erde. Manche sind regional, manche global − und alle hängen miteinander zusammen. Die klimarelevanten Systeme, die am anfälligsten für die Erderwärmung sind und einem "Point of no return" am nächsten, sind tropische Korallenriffe, die Eisschilde der Westantarktis und Grönlands, Alpengletscher, das arktische Meereseis im Sommer und der Regenwald im Amazonas.

Etwas weniger anfällig sind etwa die Strömungen, die Wärme in den Meeren verteilen, der Jetstream in der Arktis und der Monsun. Bei den Permafrostböden in Sibirien gibt es wahrscheinlich keine einheitlich geltende Temperatur, die ihr Tauen auslöst. Bei jedem Grad Erderwärmung mehr wird ihr Auftauen laut IPCC-Schätzungen jeweils Milliarden Tonnen CO2 zusätzlich freisetzen − und damit die Erderwärmung weiter beschleunigen.

Am widerstandsfähigsten ist der Antarktis-Eisschild. Taut allerdings auch er vollständig, würde der Meeresspiegel um enorme 56 Meter ansteigen.

Ein neuer Forschungszweig konzentriert sich auf die Frage, wie durch Klimakipppunkte ausgelöste plötzliche Veränderungen im Klimasystem zu Kettenreaktionen im Zuge eines sogenannten Welleneffekts führen. So gilt es als nahezu sicher, dass das Abschmelzen des Grönland-Eisschildes zur Verlangsamung eines Meeresströmungssystems namens Atlantische Meridionale Umwälzzirkulation (AMOC) führt. Dies wiederum könnte das tropische Regenband südwärts verschieben und die Monsunregen in Afrika und Asien abschwächen, von denen der Ackerbau für hunderte Millionen Menschen abhängt.

Wissenschaftler schließen auch nicht aus, dass die AMOC vollständig zusammenbricht. In diesem Fall würden die Winter in Europa härter und der Meeresspiegel in Nordatlantischen Becken könnte deutlich steigen.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3209542/
(abgerufen am 29.10.2021)