Textiler "Irrsinn"


"Top mit Glitzer" um vier Euro, "Sneakers mit Reißverschluss" um elf Euro, "Figurbetontes Wickelkleid" um zwölf Euro: Billigstpreise sind das eine Erfolgskonzept von Shein, dem neuen Giganten auf dem Onlinekleidermarkt. Und die Chinesen sind schneller als alle anderen, ihr Auftritt in sozialen Netzwerken ist offensiver. Nachhaltigkeit, Transparenz und Arbeitsrechte bleiben dabei auf der Strecke.

"Shein Hauls" ("Shein-Beutezüge") sind im Netz äußert populär: Junge Menschen, großteils Frauen, packen vor der Kamera ihre Bestellung aus und präsentieren die neu erworbenen Stücke. Als Belohnung gibt es Likes und Follower zuhauf: Auf YouTube werden manche dieser Videos millionenfach angeklickt, auf TikTok sind derzeit 3,8 Milliarden Einträge mit dem Hashtag #sheinhaul versehen.

Die Popularität des Fast-Fashion-Unternehmens ist während der Pandemie enorm gestiegen, mittlerweile ist Shein.com dem Analyseunternehmen Similarweb zufolge die meistbesuchte Modewebsite der Welt, gefolgt von H&M und Nike. Die CoV-Krise und damit verbundene Geschäftssperren haben dem Unternehmen einen Umsatzschub beschert, zitierte die BBC unlängst Richard Lim, Geschäftsführer der Beratungsfirma Retail Economics. "Der Kampf um die Markenbekanntheit fand über digitale Plattformen statt. Das half Shein.com, seine Präsenz auszubauen und schneller ein größeres Publikum zu erreichen."

In diesem Punkt scheint Shein der Konkurrenz tatsächlich voran zu sein, "Einzelhandel in Echtzeit" wird das System genannt. Dank einer intern entwickelten Statistiksoftware wird sofort erkannt, wenn ein Produkt auf der App der Marke oder in den sozialen Netzwerken Aufmerksamkeit erregt. Unternehmen entlang der Lieferkette sind in den Datenfluss eingebunden und reagieren entsprechend. Die neuen Produkte werden in einer Auflage von 50 bis 300 Exemplaren hergestellt, läuft es gut, wird umgehend mehr produziert, wenn nicht, wird es eingestellt.

Galt bisher Zara mit einem Produktionszyklus von drei bis vier Wochen als Inbegriff von Fast Fashion, soll Shein fähig sein, ein Kleid innerhalb einer Woche herzustellen − vom Design bis zur Verpackung. Zwischen 5.000 und 10.000 neue Produkte pro Tag kommen so auf den Markt.

Um die Nachfrage noch zu verstärken, bekommt die Kundschaft Punkte, wenn sie die App einmal täglich öffnet oder Bewertungen schreibt. Diese Punkte lassen sich später in Gutscheine umtauschen. Zudem spannt das Unternehmen Influencerinnen und Künstlerinnen wie Addison Rae und Katy Perry für Kampagnen ein. Auf seinen Plattformen veranstaltet Shein Liveshows, um seine Produkte zu bewerben − ein bisher von westlichen Firmen nur zögerlich genutztes Werbetool.

So aggressiv es online aufritt, so wenig ist über das Unternehmen bekannt: Die Vorgängerfirma Sheiinside wurde 2008 in der ostchinesischen Stadt Nanjing von drei Männern gegründet, unter ihnen Chris Xu (Xu Yangtian), ein Spezialist für Suchmaschinenoptimierung. Verkaufte das Unternehmen anfangs vor allem Brautkleider, startete es 2014/2015 unter dem verkürzten Namen Shein durch, zuerst mit Damenmode, später auch mit Bekleidung für Männer und Kinder sowie Accessoires. Über Xi gibt es keine gesicherten Informationen, nicht einmal über seinen Geburts- oder Studienort, Interviews gewährt er nicht.

Verschwiegenheit herrscht auch bei den Geschäftszahlen: Schätzungen zufolge machte die Firma vergangenes Jahr einen Umsatz von fast zehn Milliarden US-Dollar, heuer könnte er sich verdoppeln. "Shein verkauft nun in über 150 Länder und Territorien der Welt", heißt es auf der Website − in China selbst ist es kaum präsent. Verkauft werden die Stücke, die im Durchschnitt nur rund sieben Euro kosten, hauptsächlich an Kundinnen und Kunden in den USA, Europa und Australien. Weiters liest man: "Shein ist der ultimative One-Stop-Shop für die moderne und dennoch sparsame Fashionista. Ziel ist es, weltweit jedem Kunden umgehend stilvolle Qualitätsprodukte zu attraktiven Preisen anzubieten."

Doch die Preise haben ihren Preis: Immer wieder werfen Bekleidungsmarken Shein vor, ihre Designs zu kopieren − manche davon erhielten auch recht. Gleichzeitig ist das Netz voll von Beschwerden, sie reichen von minderwertiger Qualität der Produkte über viel zu spät oder nicht gelieferter Ware bis hin zu manipulierten Onlinerezensionen.

"Im Juli 2020 kam die Firma zweimal innerhalb einer Woche in die Schlagzeilen, weil sie erst eine muslimische Gebetsmatte als ´Griechischen Teppich´ verkauft hatte und − kaum hatte sie sich entschuldigt − eine Goldkette mit Swastika-Anhänger in den Shop stellte", schrieb Public Eye jüngst in einem Bericht. Die unabhängige Schweizer Organisation, deren Ziel es eigenen Angaben zufolge ist, eine gerechte Globalisierung zu ermöglichen, hat im vergangenen Jahr eine Untersuchung über Shein eingeleitet.

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Mitarbeiterinnen der Organisation besuchten 17 Fabriken in Guangzhou, wo Shein nicht nur seinen Hauptsitz, sondern auch die wichtigsten Zulieferer hat. Insgesamt, schrieb Public Eye, gebe es dort "wohl über tausend Betriebe, die für Shein produzieren, darunter viele informelle Werkstätten ohne Notausgänge und mit vergitterten Fenstern, was bei einem Brand fatale Folgen hätte".

Zehn Arbeiter und Arbeiterinnen an sechs Standorten seien befragt worden. Ein typischer Arbeitstag dauere im Schnitt elfeinhalb Stunden, eine Arbeitswoche 75 Stunden. Pro Monat hätten die Arbeiter und Arbeiterinnen gerade einmal einen Tag frei. Dem Bericht zufolge handelt es sich dabei "ausnahmslos aus ärmeren Provinzen" stammendes Personal, das pro Kleidungsstück bezahlt werde. Shein sagte zu, den Bericht prüfen zu wollen. "Wir haben einen strengen Verhaltenskodex für Lieferanten, der strenge Gesundheits- und Sicherheitsrichtlinien enthält und den lokalen Gesetzen entspricht. Wenn eine Nichteinhaltung festgestellt wird, werden wir sofort Maßnahmen ergreifen."

Das Resümee von Public Eye fällt dennoch bitter aus: "Das ganze Shein-Modell ist darauf angelegt, auf der Basis aggressiver Datenbeschaffung und -auswertung möglichst die ganze Wertschöpfungskette zu kontrollieren und dabei möglichst keine Verantwortung zu übernehmen. Durch die Kombination aus avantgardistischer Onlinestrategie und archaischen Arbeitszeiten perfektioniert der chinesische Newcomer die Geschäftsprinzipien der Fast-Fashion-Industrie auf besonders perfide Weise."

Perfide umso mehr noch, als laut einer Studie des World Resources Institute die Modeindustrie als zweitgrößter Produktionssektor der Welt für bis zu acht Prozent der Kohlenstoffemissionen weltweit verantwortlich ist. Dass die Modeindustrie sich von der Fast Fashion abwendet, ist derzeit jedoch nicht absehbar, wie eine Greenpeace-Studie unlängst festhielt. Jedes Jahr entstehen so weltweit rund 92 Millionen Tonnen Textilabfall, wilde Deponien in Südamerika oder Afrika nehmen überhand.

Das muss nicht zwangsläufig so bleiben, sagte die britische Modedesignerin Stella McCartney unlängst am Rande der UNO-Klimakonferenz in Glasgow. So wie der Modegeschmack sich ändere, ändere sich auch das Bewusstsein für das, was in der Kleidung stecke. "Ich denke, wir befinden uns in einem Stadium, in dem wir sehr schnell irrelevant werden (...) und Generation X, Y und Z keine schädliche Mode mehr akzeptieren wird." Das Beispiel Shein spricht nicht dafür.

Quelle:
https://orf.at/stories/3237589/
(abgerufen am 23.01.2022)