Günstiges Mikroklima


Rund 350 Kilometer nordöstlich von St. Petersburg wurden vor mehr als 8.000 Jahren hunderte Menschen bestattet. Der Friedhof wurde laut neuen Erkenntnissen in einer Zeitperiode genutzt, in der die Temperaturen deutlich absanken. Vermutlich sind die Jäger und Sammler damals näher zusammengerückt, da in der Region ein günstigeres Mikroklima herrschte.

Aufgrund der schmelzenden eiszeitlichen Eiskappen Nordamerikas bildeten sich dort zu jener Zeit riesige Süßwasserseen. Als sich dann vor rund 8.200 Jahren diese ungeheuren Süßwassermassen in den Nordatlantik ergossen, beeinflusste der sinkende Salzgehalt den Golfstrom. Das bedeutete u.a. für die damals in Europa ansässigen Menschen eine merkliche Abkühlung (Misox-Schwankung). Das Team um Rick Schulting von der Oxford University, dem auch Tom Higham vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien angehörte, bezeichnet diese Veränderung als "den dramatischsten Klimaeinbruch" nach den Eiszeiten (Holozän).

Ob diese Verwerfung auch weitestgehend flexible und kleine Jäger-Sammler-Gesellschaften aus der Bahn geworfen hat, untersuchten die Wissenschaftler anhand der in den 1930er Jahren ausgegrabenen Bestattungsstätte namens Yuzhniy Oleniy Ostrov auf einer Insel im Onegasee im Nordwesten Russlands. Hier wurden 177 Gräber freigelegt, bis zu 400 dürften es einmal gewesen sein, schreiben die Forscher in ihrer soeben im Fachmagazin "Nature Ecology & Evolution" erschienenen Arbeit. Da die Gräber sehr verschiedene Ausstattungen an Beigaben enthielten, gibt es Diskussion darüber, ob es sich damals um eine eher egalitäre Gesellschaft handelte bzw. ob es große Unterschiede gab.

Mittels neuer Datierungsmethoden stellten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen nun fest, dass die Gräber innerhalb von nur 100 bis 300 Jahren und höchstwahrscheinlich vor 8.250 bis 8.000 Jahren angelegt wurden. Dementsprechend ist davon auszugehen, dass sich hier Spuren der Misox-Schwankung finden, die in Nordosteuropa eine Abkühlung von ein bis drei Grad Celsius im Jahresschnitt über einen Zeitraum von bis zu 200 Jahre gebracht haben dürfte. Früher wurde angenommen, dass das Gräberfeld rund 800 Jahre lang genutzt wurde.

Die Klimaveränderungen könnten die Gegend um den See als Siedlungsplatz noch attraktiver gemacht haben, da sich dort vermutlich relativ viel Wild befand und die Fischgründe im See reichhaltig waren. Andere kleine Wasserflächen in der Region scheinen aufgrund des langen Zufrierens kaum mehr Fisch beherbergt haben, der zweitgrößte See Europas hingegen schon. Dazu komme, dass die in der Kaltzeit etwas wärmeren Sommer mit weniger Niederschlägen die Waldbrandgefahr erhöhten. All das machte es den Wissenschaftlern zufolge für die Jäger-Sammler-Gruppen attraktiv, sich an den Ufern des Sees aufzuhalten, der wahrscheinlich ein um einiges günstigeres Mikroklima als die Umgebung hatte.

Die gefundenen Überreste von Menschen und Tieren deuten tatsächlich darauf hin, dass die Menschen an dem offenbar relativ lebenswerten Ort quasi zusammenrückten. Da sonst in der Region aus der Altsteinzeit nur kleine Bestattungsplätze bekannt sind, sei der große Friedhof als neue Entwicklung anzusehen, schreiben die Wissenschaftler. Sie sehen die Stätte auch als Hinweis, dass Gruppen damit signalisieren wollten, dass sie gewissermaßen im Besitz des Zuganges zu den dortigen Ressourcen sind.

Dass sich mehrere Gruppen versammelten, wurde bereits vermutet, da sich im nördlichen Teil des Gräberfeldes mehr Bildnisse von Elchen, im südlichen mehr Bildnisse von Schlangen und Menschen fanden. Auch die Steinartefakte zeigen eine für die Region ungewöhnliche Vielfalt, die sich auch in DNA-Analysen der Überreste widerspiegelt. Es sei davon auszugehen, dass der wichtige Zugang zu den Fischgründen auch zu sozialen Spannungen führte, weil sich die Jäger-Sammler-Gruppen nicht wie sonst üblich aus dem Weg gehen konnten. Dass es durch den Klimastress auch zu stärker hierarchisch organisierten Gemeinschaften gekommen sei dürfte, zeigen manche Gräber mit sehr viele Beigaben.

Jedenfalls wurde die Stätte in der Zeit nach der deutlichen Abkühlung kaum mehr genützt. In den dann wärmeren Wintern dürften die verschiedenen Gruppen wieder zur alten, verstreuten und mobileren Lebensweise zurückgekehrt sein. Die "Komplexität" in der Gesellschaft, die sich dort einst zeigte, war jedenfalls "auf die Situation abgestimmt und umkehrbar".

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3211130/
(abgerufen am 29.01.2022)