Globale Krisen


Westafrika steht kurz vor der schlimmsten Nahrungsmittelkrise seit zehn Jahren. Neben einer beispiellosen Dürre verschlimmern Lieferausfälle und Teuerung infolge des Ukraine−Krieges und der Pandemie die Lage zusätzlich. Nicht nur Hunger ist eine ständige Gefahr: Die Sahelzone ist auch zu einem Epizentrum des Terrorismus geworden. Extremisten nutzen die Not der Menschen aus − und greifen dabei zu immer drastischeren Mitteln.

Vertrocknete Ernten, verbranntes Weideland, verdurstetes Vieh: Westafrika sieht sich zunehmend Dürren, Überschwemmungen und einer veränderten Regenzeit ausgesetzt − was die Hungerkrise, die bereits zahlreiche Menschenleben gekostet hat, weiter zuspitzt. Hilfsorganisationen weltweit warnen davor, dass sich die Situation aufgrund des Krieges in der Ukraine und den Folgen der Pandemie noch weiter verschlimmern könnte.

Im Juni könnten in der Region laut Angaben von Hilfsorganisationen bald 43 Millionen Menschen hungern − ein Drittel mehr als im Vorjahr. Konflikte, extreme Wetterbedingungen und wirtschaftliche Schocks haben die weltweite Zahl der unter akutem Nahrungsmittelmangel leidenden Menschen im vergangenen Jahr um ein Fünftel auf 193 Millionen steigen lassen, schrieb die von UNO und EU gegründete Organisation Global Network Against Food Crises in ihrem aktuellen Jahresbericht. Seit 2016 habe sich die Zahl fast verdoppelt.

Die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie werden durch den Ukraine−Krieg noch weiter verschärft. Infolge des russischen Angriffs und der westlichen Sanktionen gegen Moskau sind die Ölpreise ebenso rasant gestiegen wie die Preise für Lebensmittel wie Öl und Reis. Die Zentralbank in Sierra Leone bezifferte die Inflation unlängst mit 17,6 Prozent. "Wir haben nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun, aber unser Volk leidet", sagte der Präsident von Sierra Leone, Julius Maada Bio, bei einem Treffen mit Wirtschaftsvertretern im April und bat um Hilfe für die "einfachen Leute".

Neben den Preissteigerungen hat die Region auch mit den globalen Verwerfungen der Lieferketten zu kämpfen. Sechs westafrikanische Länder importieren mindestens 30 Prozent und teilweise sogar mehr als die Hälfte ihres Weizens aus Russland oder der Ukraine, so die Organisation Save the Children.

Zahlreiche Häfen sind jedoch aktuell nicht zugänglich, Lieferungen aus dem Schwarzmeer−Raum verzögern sich oder werden ganz gestrichen − was auch die Arbeit von Hilfsorganisationen beeinträchtigt. Durch Preissteigerungen entstandene zusätzliche Kosten hätten beispielsweise tägliche Schulmahlzeiten für sechs Millionen Schulkinder über ein halbes Jahr finanzieren können, so das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP).

Durch die Lieferengpässe entstehen Ausfälle, die mit eigenen Erzeugnissen aufgrund der Gegebenheiten in der lokalen Landwirtschaft nicht kompensiert werden können. In Westafrika besteht etwa die Hälfte der Fläche aus Trockengebieten. Sie befinden sich in der westafrikanischen Sahelzone, wo sich Grasland, Büsche und kleine, dornige Bäume südlich der Sahara erstrecken. Das Bevölkerungswachstum in der Sahelzone gehört laut UNO zu den höchsten der Welt − was auch mit einem zunehmenden Landbedarf und einer Veränderung der Vegetation einhergeht. Überweidung und Umwandlung von Weide− in Ackerland haben die Bodenbedeckung bereits stark geschädigt.

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Auch vergangene Dürren und Starkniederschläge haben den Boden bereits stark belastet − Wetterextreme, die durch die Klimakrise weiter verstärkt werden könnten. Höhere Temperaturen können auch zu einer Erhöhung der Verdunstung führen, was sich zusätzlich negativ auf die Vegetation auswirkt. Der nigrische Minister für Hochschulbildung und Forschung, Mamoudou Djibo, nannte den Klimawandel eine existenzielle Bedrohung der Lebensgrundlage in seinem Land.

Es gebe immer mehr Dürrezeiten, die Anfangs− und Endzeiten der Regenzeit veränderten sich, der Fluss Niger versande immer mehr. Nach Angaben von Djibo hat die Universität in Niamey das Thema Klimawandel und erneuerbare Energien zu einem der Schwerpunkte ihrer Forschung gemacht.

Besonders eindrücklich zeigt sich der Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Klimakrise laut der Südwind−Initiative "Climate of Change" am Beispiel Senegal: Etwa 65 Prozent der Bevölkerung leben an der Küste. Der jährliche Anstieg des Meeresspiegels liegt bei 3,5 bis vier Millimetern. Gerade für die Bevölkerung der Küstenstädte St. Louis und Dakar sei Erosion ein enormer Gefährdungsfaktor. Im Zuge der Recherche gaben Interviewpartner an, dass sie mit ansehen mussten, wie ihre Häuser im Meer versanken.

Im Landesinneren wiederum würden vermehrte Dürren zu weitreichenden Einbußen in der Landwirtschaft führen, was die rasante Urbanisierung und eine Überforderung der städtischen Infrastruktur fördere. Die daraus resultierenden Müllentsorgungsprobleme würden durch Müllimporte aus Europa erheblich verschärft. Etwa 70 Prozent der Feststoffabfälle würden in nicht genehmigten Mülldeponien entsorgt.

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Erschwerend kommt zur Hunger− und Klimakrise hinzu, dass die Sahelzone laut einem Bericht des Institutes of Economics and Peace (IEP) zum neuen Epizentrum des Terrorismus geworden ist, der durch die Krisen und schwache Regierungen noch verstärkt wird. Nach den militärischen Niederlagen in Syrien und im Irak verlagerte der Islamische Staat (IS) seine Aufmerksamkeit auf die Sahelzone. Seit 2007 hat sich die Zahl der Todesopfer in der Region verzehnfacht. Vier der zehn Länder mit den höchsten Zuwächsen bei den Todesfällen durch Terrorismus liegen in Afrika südlich der Sahara: Niger, Mali, die Demokratische Republik Kongo und Burkina Faso.

Die Terrorgruppe der Jamaat Nusrat al−Islam wal Muslimeen, die in der Sahelzone operiert, gilt als die am schnellsten wachsende Terrororganisation der Welt und war 2021 für 351 Tote verantwortlich, was einem Anstieg von 69 Prozent entspricht. Laut dem jährlichen globalen Terrorismusindex war der IS in Westafrika im Jahr 2021 die tödlichste Terrorgruppe der Welt. In Niger forderte jeder Anschlag durchschnittlich 15 Tote.

In Burkina Faso ist mehr als eine Viertelmillion Menschen Opfer eines neuen "Wasserkrieges", in dem unbekannte Täter Wasseranlagen angreifen. Allein in diesem Jahr seien laut einer Gruppe nationaler und internationaler Hilfsorganisationen 32 Wasseranlagen zerstört worden − etwa durch Anschläge auf Wasserstellen und Wasserlastwagen, gezielte Kontamination von Ressourcen sowie Sabotage von Generatoren öffentlicher Wasserpumpanlagen.

Hassane Hamadou, Landesdirektor des norwegischen Flüchtlingsrates in Burkina Faso, bezeichnete die Unterbrechung des Zugangs der Zivilbevölkerung zu Wasser als "Kriegswaffe" militanter und terroristischer Gruppen. Die meisten Zerstörungen des "Wasserkrieges" ereigneten sich nach Angaben der Hilfsorganisationen in der nördlichen Stadt Djibo, die Hunderttausende Vertriebene beherbergt.

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Die Zahl der Hungernden in Afrika werde in den nächsten Monaten weiter zunehmen, warnte das internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Diese dramatische Entwicklung bleibe angesichts des Ukraine−Krieges und anderer Krisen aber "weitgehend unbemerkt". Die "schreckliche Notlage" der Zivilbevölkerung in der Ukraine dürfe die weltweite Aufmerksamkeit nicht von anderen Krisen wie der Hungerkrise in Afrika ablenken, sagte der Leiter der internationalen Einsätze des IKRK, Dominik Stillhart, vor Journalistinnen und Journalisten in Nairobi.

"Humanitäre Krisen dürfen nicht miteinander konkurrieren", betonte auch Mamadou Diop, regionaler Vertreter von "Aktion gegen den Hunger", gegenüber der Organisation Save the Children. "Die Sahelkrise ist eine der schlimmsten humanitären Krisen weltweit und gleichzeitig eine der am wenigsten finanzierten." Es sei zu befürchten, dass durch die Umleitung der humanitären Budgets für die Ukraine−Krise in Kauf genommen würde, eine Krise zu verschärfen, um auf eine andere zu reagieren.

Die USA, Frankreich und weitere Staaten haben den betroffenen Ländern eine Aufstockung ihrer Finanzhilfen zugesagt. Auch die EU erneuerte vor dem Hintergrund der Verschlechterung der Ernährungssicherheit ihr politisches und finanzielles Engagement zugunsten der Partnerländer in Afrika.

2015 hatte sie sich bereits in Nairobi verpflichtet, Exportsubventionen abzuschaffen, damit faire Wettbewerbsverhältnisse für Bauern und Bäuerinnen in ärmeren Ländern herrschen. Im Jahr 2022 werden insgesamt 554 Millionen Euro gezielt für die Verbesserung der Ernährungssicherheit in der Sahelzone und in der Tschadseeregion bereitgestellt. Auch Maßnahmen, die auf eine Anpassung an die Klimakrise abzielen, sind geplant.

Quelle:
https://orf.at/stories/3263493/
(abgerufen am 08.05.2022)