Abschied der Eisriesen


Auf der ganzen Welt kämpfen die Gebirgsgletscher mit den steigenden Temperaturen. Wie es mit ihnen weitergeht, zeigt ein Forscher der Universität Innsbruck in einem globalen Modell: Für viele Eisriesen ist es schon zu spät − bei den größten Gletschern spielt es aber durchaus noch eine Rolle, wie sich die Menschheit in den kommenden Jahren verhält.

Die Gletscher in den Alpen zerbröseln immer weiter. Die Schneeschmelze war im Sommer 2022 stärker als im bisherigen Rekordjahr 2003. Zu wenig Schnee schützt das Gletschereis vor der Sonne − große Mengen an Schmelzwasser sind die Folge und immer mehr Gletscherzungen laufen Gefahr, vom Rest der Eisriesen abzureißen. In den Schweizer Alpen hat sich das Gletschervolumen so in den letzten 85 Jahren bereits halbiert.

Dass die anhaltende Klimaerwärmung den Gletschern immer stärker zusetzt, weiß auch der Glaziologe Fabien Maussion. Der gebürtige Franzose war schon als Jugendlicher oft in den Bergen und auf Gletschern unterwegs − heute ist der 38−Jährige an der Universität Innsbruck als assoziierter Professor und Gletscherforscher tätig. Nach Innsbruck hat es ihn verschlagen, weil er neben den Gletschern selbst auch das Klima und Wetter in den Gebirgen untersuchen wollte. "Dafür ist Innsbruck einfach weltweit eine der stärksten Universitäten", erklärt Maussion gegenüber science.ORF.at.

Seit er in Österreich tätig ist, arbeitet der Glaziologe an der Entwicklung des Open Global Glacier Modells (OGGM), das zeigt, wie sich auch Gebirgsgletscher außerhalb der Alpen in den kommenden Jahren entwickeln könnten. "Es handelt sich um ein numerisches Modell, das in der Lage ist, alle Gebirgsgletscher der Welt zu simulieren und ihre vergangene und zukünftige Entwicklung zu berechnen", so Maussion.

In das internationale Modell sind bis jetzt vor allem Satellitendaten von Gletschern eingeflossen, aber auch schon einige Ergebnisse aus Untersuchungen, die direkt an den Eisriesen stattgefunden haben. Dazu kooperiert Maussion mit zahlreichen Forscherinnen und Forschern in anderen Ländern, etwa in Frankreich, Deutschland, Island, der Schweiz, den USA oder China.

Auch Maussion selbst war früher oft auf internationalen Gletschern unterwegs, für seine Forschung zieht es ihn aber heute auch immer öfter in die Berge vor seiner Haustür in Innsbruck. Unnötige Forschungsreisen lehnt er generell ab: "Es ist als Gletscherforscher heute schwierig zu erzählen, dass wir gegen den Klimawandel kämpfen wollen und dann selbst so oft zum Beispiel in den Himalaya fliegen. Das heißt, alles, was wir hier machen können, machen wir auch hier."

Wenn der Nachschub an neuem Eis komplett versiegt, sprechen Expertinnen und Experten auch von Gletschern mit "totem Eis". Eine Situation, die nach dem extremen Sommer auch in Österreich immer häufiger wird. "Wir sagen totes Eis dazu, weil es nur so vor sich hin schmilzt und kein Neues nachkommt. Natürlich war das heurige Jahr bisher schon ein Extremjahr, aber wir wissen, dass dieses Extremjahr durch die Klimaerwärmung ein normales Jahr der Zukunft sein wird", erklärt der Glaziologe.

Die bisher gesammelten Daten zeigen laut Maussion klar, dass weltweit zu viel Gletschereis schmilzt. Bis zum Ende des Jahrhunderts fällt seine Prognose daher recht düster aus. "Wenn man sich die Lage der Gebirgsgletscher auf der ganzen Welt so ansieht, wird in den Bergen wahrscheinlich nur noch ein bisschen Eis erhalten bleiben − aber auch nur bei den höchstgelegenen und größten Gletschern."

Aus Österreich werden die Eisriesen bis zum Ende des Jahrhunderts wahrscheinlich komplett verschwinden. Auch wenn die Treibhausgasemissionen drastisch reduziert werden könnten, ist es vielen Gletschern hierzulande bereits zu warm. "Wenn es jetzt nur um Österreich ginge, ist unsere Arbeit tatsächlich sehr düster. Aber es gibt auch noch Gletscher in vielen anderen Gebirgen der Welt und da zeigt das Modell mit großer Sicherheit, dass es noch einen Unterschied macht, was die Menschheit jetzt beschließt", so Maussion.

Eine tatsächliche Reduktion der Treibhausgasemissionen könnte demnach zumindest bei den größten Gletschern, etwa im Himalaya−Gebirge, noch Wirkung zeigen.

Mit dem globalen Gletschermodell lassen sich auch Prognosen zu den Auswirkungen der Eisschmelze treffen, welche Gefahren vom Schmelzwasser ausgehen und wie sich die Wasserversorgung in den betroffenen Gebieten verändern könnte.

Eines der größten Anliegen von Maussion ist es daher, die Erkenntnisse aus dem Gletschermodell so vielen Menschen wie möglich kostenlos zur Verfügung zu stellen. Das Modell ist nicht nur online frei zugänglich, die beteiligten Forscherinnen und Forscher bringen den Umgang damit auch in internationalen Workshops den Menschen in betroffenen Gebieten direkt bei. Maussion: "Nächstes Jahr ist zum Beispiel eine Reise nach Pakistan geplant, wo wir mit den Forschern vor Ort über die dortigen Gletscher, die Gletscherschmelze und Gletschermodellierungen sprechen werden."

Um das globale Gletschermodell auch für jüngere Generationen zugänglich zu machen, haben die beteiligten Forscherinnen und Forscher eine Plattform entwickelt, die eigens für den Unterricht an Schulen und Universitäten gedacht ist. "Da wird das Modell zwar verwendet aber ein bisschen versteckt hinter einfacheren Werkzeugen, die speziell auf Lehrpersonen und den Unterricht ausgerichtet sind."

Abschied der Eisriesen 01

Dem Gletscherforscher liegt generell sehr viel daran, Forschung öffentlich zugänglich zu machen und auch die Prozesse dahinter möglichst transparent zu gestalten: "Unsere Arbeit ist hauptsächlich vom Staat und von Steuergeld finanziert. Umso wichtiger ist es meiner Meinung nach, dass jede Österreicherin und jeder Österreicher weiß wo das Geld tatsächlich hingeht."

Noch ist es laut Maussion nicht gang und gäbe, dass Forschungsdaten frei zugänglich gemacht werden. Immer mehr Forscherinnen und Forscher würden es ihm aber gleichtun und ihre kompletten Untersuchungen veröffentlichen. Der Gletscherforscher hofft, dass Open−Access−Forschungsdaten in ein paar Jahren sowieso die Norm in der Wissenschaft sein werden.

Quelle:
https://science.orf.at/stories/3215079/
(abgerufen am 23.09.2022)